Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung

Unternehmen und Betriebe wissen, was Gesundheitsförderung und Arbeitsschutz ist - wenn sie beides auch nicht immer zufrieden stellend umsetzen - physikalische, chemische, mechanische und ergonomisch wirksame Einflüsse auf „den Menschen“ sind gut erforscht und im Berufsalltag meistens umgesetzt und „man“ orientiert sich an Kriterien und Werten, die unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation oder arbeitsschutzrechtlichen Normen vorgegeben werden.

Diese Tradition hat nur eines nicht gesehen – nämlich, dass Erwerbstätige und Arbeitende aus zwei Geschlechtern bestehen. Die Konzepte und das, was aus ihnen für die Anwendung in den Betrieben folgt, sind geschlechtsneutral gedacht und verfasst worden und dieses wirkt bis heute fort. Dabei ist „Geschlechtsneutralität“ natürlich eine irritierende Bezeichnung. Sie unterstellt Objektivität und steht damit in großer Distanz zu den persönlichen und sachlichen Bedingungen gesunden Arbeitens. Eine Neutralität dieser Art gibt es nicht und hat es nie gegeben. Vielmehr hat sich die Gesundheitsförderung und der Arbeitsschutz unausgesprochen bis heute am „männlichen „Normalarbeitnehmer“ orientiert – hat also seine biologische Konstitution, sein männliches Rollenverständnis, seine Zeitwahrnehmung und Zeitnutzung, seine Wertüberzeugungen von dem, was „richtig“ und „gut“ ist und daher auch seine persönlichen, beruflichen und sozialen Bedürfnisse zum Maßstab von Entscheidungen gemacht. Dieser Maßstab fällt besonders dort ins Gewicht, wo es um Schutzbedürfnisse am Arbeitsplatz einschließlich seiner Umgebungsbedingungen geht. Schutzbedürfnisse, die aus männlicher Sicht definiert und daher auch dimensioniert werden, liegen aber oft fernab von weiblichen Maßstäben und sind damit auch nicht gerecht im Sinne der Gesetzgebung, die wir im Europarecht sowie im Bundes- und Landesrecht haben.

Die hier präsentierten Dokumente nehmen die Sicht einer neuen Balance ein. Sie nehmen die biologische Konstitution von Frauen, ihr weibliches Rollenverständnis, ihre Zeitwahrnehmung und Zeitnutzung, ihre Wertüberzeugungen von dem was „richtig“ und „gut“ ist und daher auch ihre persönlichen, beruflichen und sozialen Bedürfnisse ernst und stellen sie gleichberechtigt neben die der männlichen Tradition.

  • Was ist „gesundes Arbeiten“, wenn männliche und weibliche Maßstäbe unter inhaltlichen und konzeptuellen Gesichtspunkten benannt, miteinander verglichen und auf die heutigen Herausforderungen hin neu bewertet werden?
  • Was ist „gesundes Arbeiten“, wenn diese Maßstäbe hin zu Instrumenten entwickelt werden, die die Gesundheitsförderung und den Arbeitsschutz auch strukturell in den Unternehmen und Betrieben verankern?
  • Was wird an objektiven, was an subjektiven Daten benötigt, um diese Fragen beantworten zu können?
  • Mit welchen Verfahren und mit welchen Partnern und Partnerinnen kommen wir dabei am besten zum Ziel?

Die Europäischen Union hat im Amsterdamer Vertrag von 1997, die Einbeziehung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in Artikel 2 und Artikel 3 Absatz 2 rechtsverbindlich festgeschrieben hat. Inhaltlich hat sie mit diesen Regelungen Normen gesetzt, die die Chancengleichheit von Männern und Frauen in allen politischen Bereichen und bei allen Tätigkeiten, die dazu gehören, durchsetzen sollen. Der Amsterdamer Vertrag nennt insgesamt 21 Bereiche und Tätigkeiten – darunter die Förderung und Koordinierung der Beschäftigungspolitik, die Sozialpolitik und – hierbesonders hervorzuheben – die Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus.

Was ist die Philosophie dieses Leitprinzips? Es sagt, dass wir alle Tradition – was wir beruflich bearbeiten und wie wir arbeiten, welche Normen wir dafür vorfinden und beachten müssen, welche Konzepte wir entwickeln, welche Rollenverständnisse wir als Frauen und Männer haben und wie wir uns sprachlich ausdrücken – aus der Geschlechterperspektive – Gender – heraus neu definieren, dimensionieren und zukunftsfähig machen. Die Tradition ist demnach nichts anderes als der „Mainstream“, der Hauptstrom, den es neu zu gestalten gilt. Gender Mainstreaming ist daher auch nichts, was „zusätzlich“ zum ohnehin Gegebenen hinzukommen müßte. Im Gegenteil: Das Gegebene ist gerade das Kernelement, das sich - nun allerdings durch den zweifachen Gender-Blick - neu bewähren muss. Gender Mainstreaming sagt uns also, dass wir die Bedingungen, unter denen wir leben, arbeiten und beruflich tätig sind, nicht länger durch einen Monokel, sondern durch die „Gender-Brille“ sehen sollen.

Worauf es ankommt ist die Effizienz und Effektivität der Brille. Gender-Mainstraming kann ja nur so gut sein kann wie die Instrumente und Verfahren, die für die Umsetzung zu entwickeln sind. Die Instrumente sollten erstens der gesetzlichen Aufgabenerfüllung und dem damit verbundenen ethischen Anspruch genügen, also zur tatsächlichen Verwirklichung der Chancengleichheit von Frauen und Männern beitragen; zweitens sollten sie aber aus Gründen der Akzeptanz auch zu Ergebnissen führen, die sowohl persönlich wie betrieblich nützlich sind. Beides können sie aber nur bewirken, wenn die Einbeziehung der Geschlechterperspektive zu empirisch nachprüfbaren Ergebnissen führt, mithin rein subjektiven Theorien und Zuschreibungen entzogen ist.

Bei diesem Nutzen geht es um weit mehr als um einseitige ökonomische Belange. Es geht um eine ganzheitliche, körperlich-seelische Orientierung, die für Frauen und Männer gleichermaßen gilt.

Eine Orientierung an der Ressource „Geschlechterperspektive“ setzt nicht nur Motivationen sowie Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit frei; sie eröffnet auch neue Herangehensweisen, was die Genauigkeit der Bestimmung der Gesundheits- und Arbeitsschutzziele und ihrer Umsetzungsmethoden anbelangt. In diesen und weiteren Faktoren liegen Potenziale, deren Nutzen die Betriebe heute erst ansatzweise sehen, die aber zukünftig eine immer größere Rolle insbesondere für die Sicherung der Standortvorteile spielen werden.

Die Ressource „Geschlechterperspektive“ ist daher zu Recht als Schlüsselkonzept zu bezeichnen, das einen wesentlichen, wenn nicht den wichtigsten Beitrag für die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen und Betriebe leistet.

Wie groß der Handlungsbedarf gerade in dieser Hinsicht ist, signalisieren insbesondere die gestiegene Teilnahme von Frauen an der Beschäftigung - im Dienstleistungssektor sind sie zu rund 80 % im europäischen Durchschnitt vertreten - die ungleichen Arbeitsbedingungen für Frauen und Männer, sowie die zeitliche und räumliche Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse um nur die wichtigsten zu nennen.

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