Keynote

Jörg Bahlow, Geschäftsführer der GITTA mbH, stellte in seinem Impulsvortrag eine Kluft zwischen Expertendiskussion und betrieblicher Praxis fest:

"Einerseits verändert sich vieles schneller als wir es wahrnehmen, andererseits hinkt die Wirklichkeit oft noch meilenweit hinter den Verheißungen her."

Mehr Prävention – weniger Krankheits- und Pflegekosten!

Nach dem OECD-Wirtschaftsbericht 2015 liege Deutschland am unteren Ende der Skala sowohl was die Lebenserwartung ab 65 Jahre angehe wie auch in Bezug auf die Anteile „gesunder Jahre“ nach der Verrentung, berichtete Bahlow. Laut Statistik dürfe sich ein 65jähriger Norweger auf 15 Jahre guter und gesunder Lebensqualität freuen, während sein deutscher Altersgenosse gerade einmal 6,5 Jahre gesund verbringt - fast zwei Drittel seines Ruhestandes seien geprägt von Krankheit bzw. Pflegebedürftigkeit. Die Ursachen für die kürzere störungsfreie Restlaufzeit der Deutschen sehe die OECD-Studie unter anderem in folgenden Tatbeständen:

  • Nur wenige Arbeitgeber suchen nach den Gründen für krankheitsbedingte Fehlzeiten.
  • Es existieren kaum finanzielle Anreize für betriebliche Präventionsmaßnahmen.
  • Die staatliche Arbeitsschutzaufsicht wurde durch Stelleneinsparungen drastisch reduziert.
  • Schutzbestimmungen werden auf prekäre Beschäftigungsverhältnissen nicht angewendet, Verstöße werden nicht sanktioniert.

Angesichts dieser Befunde, einer demografisch bedingten längeren Erwerbsarbeit und gleichzeitig rapide steigender Pflegeaufgaben von Beschäftigten sei es also wichtig, die Aufmerksamkeit auf die Qualität des Arbeitsumfeldes und eine Erhaltung der Leistungsfähigkeit nicht nur aus betrieblicher, sondern auch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht anzustreben.

Gestaltungsfreiheit und Entlastung ermöglichen!

Die Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben sowie Entscheidungsspielräume seien zwar laut DGB-Index „Gute Arbeit 2016“ gewachsen. In Anbetracht der steigenden Pflegeaufgaben noch erwerbstätiger Menschen wären Flexibilitätsangebote allerdings in weitaus größerem Maße notwendig, so Bahlow. Die Chancen der Digitalisierung, etwa in Bezug auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf, kämen nur schleppend zum Tragen. Den Wünschen nach freiwählbarem Arbeitsbeginn und -ende oder einer selbstverantwortlichen Arbeitszeitgestaltung würde nicht in ausreichendem Maße nachgekommen. Für über 50 Prozent der in der DGB-Index-Studie befragten Beschäftigten nähmen Arbeitsmenge und Multitasking-Anforderungen im Zuge der Digitalisierung zu.

Gefährdungen frühzeitig erkennen und entgegenwirken!

Belastungen entstünden ferner durch „interessierte Selbstgefährdung“, wenn etwa Mitarbeiter Schutz- und Sicherheitsstandards umgingen, ihre Arbeitszeit freiwillig ausdehnten, krank zur Arbeit kämen (Präsentismus) oder Substanzen zur Stimulation bzw. Belohnung konsumierten. Mehr Eigenverantwortung, Selbstorganisation und Selbstführung seien wichtig. Sie müssten aber eingeübt und durch Vorgesetzte und Kollegen unterstützt werden. Arbeitsorganisatorische Maßnahmen (agile Teams) könnten sinnvoll sein. Richtig verstanden bedeute „Agilität“ alles andere als „Hast“, sondern zeichne sich vielmehr durch Commitment, Fokussierung, Offenheit, gegenseitiges Vertrauen und Respekt aus.

Für die Abschätzung der sich durch Change-Prozesse ergebenden gesundheitlichen, insbesondere psychischen Belastungen empfahl der Berater eine vorausschauende Gefährdungsbeurteilung und präsentierte dazu ein Beispiel aus dem IT-Bereich. Dort würden in Workshops mit Beschäftigten die in Interviews erhobenen oder beobachteten Risiken auf Verallgemeinerbarkeit hin untersucht und nach Dringlichkeit gewichtet, Sofortmaßnahmen sowie Ansätze zur mittel- und langfristigen Prävention erarbeitet.

Grafik: digital, flexibel, entgrenzt
Foto: Daniel Jennewein, RKW Kompetenzzentrum
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