Die EU-Gender-Strategie und ihre Auswirkungen auf Arbeit und Gesundheit bei der Arbeit

Autorin: Phoebe Schröder

Ein wichtiger Schritt zur Verankerung der Gender-Perspektive im Arbeits- und Gesundheitsschutz ist der Bericht der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz „Gender issues in safety and health at work“. Er belegt, dass geschlechtsspezifische Aspekte bei der Prävention von Risiken bisher vernachlässigt und in Zukunft verstärkt untersucht und in der Praxis berücksichtigt werden müssen. Die Gestaltung des Arbeitsplatzes, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsmittel ist, so der Bericht, am Modell des „Durchschnittsmannes“ orientiert und ignoriert weitgehend die weiblichen Bedürfnisse – und dies, obwohl die Gesetzgebung der EU nicht nur die Gleichbehandlung von Männern und Frauen verlangt, sondern auch fordert, dass sich die Arbeit an die Beschäftigten anpassen muss. Um die weiblichen Beschäftigten angemessen zu berücksichtigen, genügt es nicht, die sogenannten typischen Frauen-Arbeitsplätze zu betrachten.

Auch dort, wo Männer und Frauen in gleichen Bereichen, ja sogar an gleichen Arbeitsplätzen arbeiten, sind die Tätigkeiten oft sehr verschieden und geschlechtsspezifisch zugeordnet. D.h.: Gender richtet den Blick sowohl horizontal auf die Differenzen im scheinbar Gleichen, zwingt also zu sehr genauer Tätigkeits-Betrachtung, als auch vertikal auf die ungleich verteilten Chancen etwa des beruflichen Aufstiegs, der Fortbildung, des Arbeitsplatzwechsels etc. Gleichzeitig wird der Gender mit dem demografischen Blick auf die spezifischen Anforderungen und Bedürfnisse nicht nur von Männern und Frauen, sondern auch von jungen und älteren Männern und jungen und älteren Frauen zu richten sein, um gesundheitsförderliche und gute Arbeitsplätze für alle zu schaffen.

In allen europäischen Ländern hat sich die Arbeitswelt in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. Industrielle und landwirtschaftliche Arbeitsplätze schwinden, im Informationssektor und in der Dienstleistung sind neue Arbeitsplätze entstanden, die mit neuen Arbeitsformen, neuen Technologien und neuen Arbeitsverhältnissen einhergehen. Der Frauenanteil an der Erwerbstätigkeit ist in fast allen Mitgliedstaaten gestiegen, er beträgt derzeit 42%. Es ist absehbar, dass auch der Anteil älterer Beschäftigter, Frauen wie Männer, in den nächsten Jahren steigen wird.

Die Veränderungen in der Arbeitswelt (und, verbunden damit, in den Lebensbedingungen) haben unterschiedliche Auswirkungen auf Männer und Frauen. Der EU-Bericht zeigt auf, dass zwischen allgemeiner Diskriminierung und Gesundheit wichtige Zusammenhänge bestehen. So sind Frauen nach wie vor überwiegend für die häusliche Arbeit, die Betreuung von Kindern und Pflege von Verwandten zuständig, auch wenn sie einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen. Das erhöht ihre tägliche Arbeitszeit erheblich und führt zu höheren Gesundheitsrisiken. Sind berufliche und private Pflichten nicht vereinbar, gehen sehr viel häufiger Frauen als Männer in Teilzeitbeschäftigung, die wiederum überwiegend an den „typischen“, minder qualifizierten und minder gut dotierten Arbeitsplätzen angeboten wird. Mehr Frauen als Männer sind in niedrig entlohnten und ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Sie sind auf allen Entscheidungsebenen weniger beteiligt und arbeiten häufig in Bereichen, die auch gewerkschaftlich schwächer vertreten ist.

All diese Unterschiede in den Beschäftigungsbedingungen führen auch zu unterschiedlichen arbeitsbedingten Gesundheitsergebnissen: Frauen leiden mehr unter arbeitsbedingtem Stress, Infektionskrankheiten, Erkrankungen der oberen Gliedmaßen, Hautkrankheiten sowie Asthma und Allergien, während bei Männern eher Arbeitsunfälle, Rückenschmerzen und Hörverlust auftreten.

Die wichtigsten Schlussfolgerungen, die der Bericht aus den genannten Tatsachen zieht, seien hier kurz zusammengefasst:

1. Arbeitsbedingte Risiken für Gesundheit und Sicherheit von Frauen wurden bisher in Forschung und Prävention unterschätzt und im Vergleich zu denen von Männern vernachlässigt. Forschung, Überwachung und Prävention können nur verbessert werden, wenn der Geschlechterfaktor bei der Datenerhebung systematisch berücksichtigt wird und die arbeitsbedingten Risiken von Frauen wirksam einbezogen werden (beispielsweise werden in Deutschland gewalttätige Übergriffe durch Kunden und Patienten nicht als Arbeitsunfall gezählt. Hiervon sind aber deutlich mehr Frauen als Männer betroffen).

2. Männer und Frauen üben unterschiedliche Tätigkeiten bei unterschiedlichen Arbeitsbedingungen aus, was erhebliche Auswirkungen auf ihre Gesundheit hat. In Forschung und Praxis sollte daher berücksichtigt werden, welche Arbeiten Männer und Frauen tatsächlich ausüben und in welcher Weise sie je von Belastungen und Arbeitsbedingungen betroffen sind.

3. Ein geschlechtsneutraler Ansatz in Politik und Gesetzgebung hat dazu beigetragen, dass den arbeitsbedingten Risiken für Frauen und ihrer Prävention mit weniger Aufmerksamkeit und geringeren Mitteln begegnet wurde. So gelten die europäischen Richtlinien nicht für Hausangestellte. Daher sollten die Auswirkungen bestehender und künftiger Richtlinien geschlechterdifferenzierend untersucht werden.

4. Die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz für Frauen ist ohne den Abbau allgemeiner Diskriminierung in Arbeit und Gesellschaft nicht möglich. Anstrengungen für mehr Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sollten daher solche zugunsten der Gleichstellung in der Beschäftigung (Löhne, Aufstiegschancen, Selbständigkeit) einschließen.

5. Frauen sind bei Entscheidungen im Bereich der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz auf allen Ebenen unterrepräsentiert. Sie sollten direkter beteiligt werden und bei der Umsetzung entsprechender Strategien einbezogen werden. Als Fazit appelliert der EU-Bericht an Politik, Betriebe, Gewerkschaften, Verbände und Forschung, Maßnahmen zu ergreifen, um die arbeitsbezogenen Risiken für Frauen a) zu erkennen und differenziert darzustellen und b) in der Praxis zu bekämpfen und zu minimieren.

Als eine Möglichkeit hierzu wird die stärkere Geschlechterdifferenzierung bei der Risikoanalyse vorgeschlagen. Schlüsselaspekte hierbei sind

  • die Untersuchung der tatsächlichen Arbeitssituation,
  • die Beteiligung aller weiblichen und männlichen Beschäftigten in allen Phasen der Analyse und
  • die Vermeidung vorgefasster Annahmen darüber, welche Risiken bestehen und wer gefährdet ist.
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