Arbeiten in Zwangshaltung

Autorin: Susanne Petry, Berufsgenossenschaft Metall Nord Süd

Muskel-Skelett-Erkrankungen stehen in Deutschland und auch in anderen Industriestaaten immer noch an der Spitze der Krankheitsstatistiken. Nahezu 25 % der Arbeitsunfähigkeitstage sind laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin auf Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems zurückzuführen. Mit zunehmendem Alter steigt diese Zahl und beträgt bei den über 55-Jährigen bereits 35%; jeder fünfte Rentenzugang wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beruht auf Muskel-Skelett-Erkrankungen.

Tätigkeiten mit erzwungenen Körperhaltungen, so genannte Zwangshaltungen, stellen hohe Belastungen für das Muskel-Skelett-System dar. In der Europäischen Union verbringen rund 33% aller Arbeitnehmer mehr als die Hälfte ihres Arbeitstages mit schmerzhaften oder ermüdenden Körperhaltungen.

Schmerz und Ermüdung können nicht nur zu arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen führen, sie können die Produktivität verringern, die Haltungs- und Bewegungskontrolle verschlechtern, das Fehlerrisiko erhöhen, die Qualität mindern und gefährliche Situationen auslösen ( DIN EN 1005-4, 2009 ).

Mit dem Blick auf den demographischen Wandel und die längeren Lebensarbeitszeiten wird deutlich, dass in Zukunft mehr ältere Mitarbeiter immer länger mit Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen konfrontiert sein werden, die sich belastend auf den Organismus auswirken. Für Betriebe wird es daher immer wichtiger, sich gezielt mit dieser Problematik auseinander zu setzen, um die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit aller Mitarbeiter bis zur Rente und damit die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Betriebes zu erhalten.

Definition

Zwangshaltungen entstehen dann, wenn Mitarbeiter aufgrund der Tätigkeit, des Arbeitsmittels oder der Arbeitsplatzgestaltung Körperhaltungen einnehmen müssen, die nur geringe Bewegungsmöglichkeiten zulassen.

Es handelt sich dabei um meist extreme Körperhaltungen und Gelenkwinkelstellungen, die während der Arbeitsverrichtung über einen längeren Zeitraum eingenommen werden müssen, um die Tätigkeit überhaupt ausführen zu können und die zu Mißempfindungen oder Beschwerden führen. Aber auch ganz gewöhnliche Körperhaltungen können als Zwangshaltungen definiert werden, wenn die Arbeitsposition nicht varriert werden kann.

Statische Körperhaltung

Das Verbleiben in der jeweiligen Körperhaltung über einen längeren Zeitraum hinweg ist das Hauptmerkmal aller Zwangshaltungen und wird in der Arbeitswissenschaft als statische Körperhaltung bezeichnet. Die statische Körperhaltung wird definiert als eine Körperhaltung, die länger als 4 Sekunden eingehalten wird ( DIN EN 1005-1, 2009), wobei die Bewegung der angespannten Muskeln klein oder gleich null ist und kein Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung stattfindet.

Statische Körperhaltungen belasten das Muskel-Skelett-System besonders stark und stellen ein hohes Gesundheitsrisiko dar. Erst durch Bewegung kommen alle physischen Prozesse in Gang, die den Körper optimal aktivieren, regulieren und regenerieren, je nach Bedarf.

Werden bei statischer Haltungsarbeit mehr wie 15% der maximalen Haltekraft (statische Dauerleistungsgrenze, Rohmert 1960, Bullinger 1994 ) eingesetzt und fehlen entsprechende Bewegungsspausen, wird die beanspruchte Muskulatur nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt und es kommt zu einer schnellen Ermüdung.

Besonders hohe biomechanische Belastungen entstehen für das Muskel-Skelett-System insbesondere im Gelenkbereich, wenn aus einer Position extremer Gelenkwinkelstellung heraus dynamische Arbeit verrichtet werden muß. Dehnungsschmerzen von Gelenkkapseln oder Bändern und muskuläre Verspannungen sind erste Warnsignale für eine erhöhte Beanspruchung.

Die am häufigsten in der Arbeitswelt vorkommenden Zwangshaltungen sind:

Arbeitsbedingte Erkrankungen

Die Ursachen für Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems sind sehr vielfältig und sowohl auf berufliche, außerberufliche und individuelle Faktoren zurückzuführen. Überbelastungen, aber auch fehlende Belastungen, können das Zusammenspiel von Muskeln, Knochen und Gelenken negativ beeinflussen.

Kurzfristig einwirkende hohe Belastungen können in der Regel durch ausreichende Entlastungs- und Erholungszeiten gut kompensiert werden, sofern keine Vorschäden oder bestimmte Erkrankungen bestehen. Treten hohe Belastungen wie Zwangshaltungen häufig und über einen längeren Zeitraum auf, können sich Organismus und Muskulatur nicht ausreichend erholen. Meist langsam und über Jahre hinweg können hier muskuläre Dysbalancen, chronische Erkrankungen wie schmerzhafte Muskelverspannungen, degenerative und entzündlichen Prozesse im Bereich von Muskel- und Sehenansätzen, Bandscheiben und Menisken verbunden mit Einschränkungen der Beweglichkeit entstehen. Aber auch Nerven und Gefäße sind durch Zwangshaltungen gefährdet. So kann es durch extreme Gelenkwinkelstellungen und hohe Druckeinwirkung zu Durchblutungsstörungen und Kreislaufbeschwerden kommen; Fehlreaktionen und Verletzungen infolge von Konzentrationsmangel sind die Folge. Psychische Belastungen wie Monotonie oder Zeitdruck können die Auswirkungen von Muskel-Skelett-Belastungen verstärken.

Aber nicht jeder, der hohen Belastungen durch Arbeiten in Zwangshaltungen ausgesetzt ist, muss zwangsläufig mit kurz- oder langfristigen Beschwerden und Schädigungen des Muskel-Skelett-Systems rechnen. Ob und in welchem Ausmaß Mitarbeiter durch Arbeiten in Zwangshaltungen beansprucht sind, ist verschieden und hängt von den zur Verfügung stehenden individuellen Resourcen ab. Abhängig vom Trainingszustand wirken einseitige Belastungen am Arbeitsplatz mehr oder weniger schädigend auf die Gesundheit.

Eine gut trainierte Muskulatur schützt dabei Sehnen, Bänder und Gelenke und dient der Sturzprävention. Regelmäßiges, gesundheitsorientiertes Training stärkt dabei nicht nur die Muskulatur, sondern auch Knochen, Immunsystem, Herz- und Kreislauf. Aber auch die Psyche profitiert: Körperliche Aktivität hilft, besser mit Stress umzugehen und diesen schneller abzubauen.

Und auch das Gehirn profitiert von wechselden Belastungen und Bewegung. Das Gehirn macht zwar nur 3% der Körpermasse aus, verbraucht aber 20% des Sauerstoffs, jede noch so kleine Bewegung kann dabei die Sauerstoff- und Nährstoffversorgung und die Kohlendioxid-Abfuhr im Gehirn verbessern. Auch die Vernetzung von Hirnarealen für eine bessere Leistungsfähigkeit des Gehirns wird durch Bewegung gefördert.

Arbeitsmedizinische Vorsorge und Gefährdungsbeurteilung

Der arbeitsbedingte Anteil der Rückenerkrankungen erfordert adäquate Gefährdungsbeurteilungen von Arbeitsplätzen und Maßnahmen der Ergonomie und Arbeitsgestaltung, der Prävention und Rehabilitation.

Die arbeitsmedizinische Vorsorge nach dem Berufsgenossenschaftlichen Grundsatz G46 „Belastungen des Muskel-Skelett-Systems einschließlich Vibrationen“ kann dazu beitragen, die Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter zu erhalten und die Entstehung von Berufskrankheiten zu verhüten. Spezielle arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen sind vom Arbeitgeber für Mitarbeiter mit erhöhten Belastungen anzubieten. Arbeiten in Zwangshaltungen zählen in diesem Zusammenhang zu gefährdenden Tätigkeiten.

Auf Grund der unterschiedlichen Arbeitsplatzsituationen bzw. Belastungen ist bei vermuteter erhöhter Belastung eine Gefährdungsbeurteilung erforderlich. Die BGI 504-46 beinhaltet eine Checkliste zur Prüfung der Erforderlichkeit von Maßnahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge bei hohen körperlichen Belastungen des Muskel-Skelett-Systems. Die Checkliste ist die erste Stufe der Gefährdungsbeurteilung und ist geeignet, Arbeitsplätze mit erhöhten Belastungen auszuwählen, sowie Informationen über die Art der Belastung und nach Möglichkeit auch über bisher bekannte gesundheitliche Folgen dieser Belastungen zu erhalten. Aus der Gefährdungsbeurteilung ergeben sich Hinweise für die Prävention bezüglich der ergonomischen Arbeitsgestaltung (Verhältnisprävention) und der Verhaltensprävention. Um Gefährdungen für Rücken und Gelenke zu erkennen und zu beurteilen, sind besonders die Höhe, die Dauer und die Häufigkeit der Belastung zu ermitteln. Die Erfassung von Belastungsdaten, das Erkennen betroffenen Körperregionen, das Abschätzen der eingenommenen Körperwinkel sowie Dauer und Anzahl statischer Haltungen, gestaltet sich zur Bewertung von Zwangshaltungen sehr schwierig. Die Berufsgenossenschaft verfügt über Mitarbeiter, die hier beratend zur Seite stehen können. In jedem Fall sollten die innerbetrieblichen Beratungsmöglichkeiten (insbesondere die Fachkraft für Arbeitssicherheit und der Betriebsarzt) genutzt werden.

Das TOP-Prinzip der Prävention

Um die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit aller Mitarbeiter bis zur Rente zu erhalten, müssen technische, organisatorische und personenbezogene Maßnahmen zur Optimierung der Belastungen am Arbeitsplatz vor Ort entwickelt werden. Dabei ist es nicht nur sinnvoll, sondern meist auch notwendig, mehrere Maßnahmen in Kombination durchzuführen, um die Belastungen am Arbeitsplatz langfristig optimal zu reduzieren und nachhaltige Ergebnisse im Sinne des Gesundheitsschutzes zu erzielen. Die bei der Gefährdungsbeurteilung erkannten Belastungen sind zunächst durch technische Maßnahmen zu reduzieren, wie Einsatz von Hilfsmitteln, Veränderungen von baulichen und technischen Arbeitsplatzbedingungen etc.

Danach sollten organisatorischen Maßnahmen wie geeigneter Einsatz von Mitarbeitern, Job-Rotation, Pausengestaltung, Beteiligung von Mitarbeitern etc. durchgeführt werden.

Aber gerade auch personenbezogene Maßnahmen wie Unterweisung, Verhalten und Mitwirkung der Mitarbeiter, Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung, Ausgleichsübungen im Betrieb und arbeitsmedizinische Vorsorge etc. tragen maßgeblich zum Erfolg aller Maßnahmen und zum Erhalt oder zur Verbesserung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter bei.

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