Gesundheit hat ein Geschlecht

Autorin: Regine Rundnagel und Michael Gümbel

Die Bedeutung von Gender Mainstreaming im Arbeits- und Gesundheitsschutz

Ein Bericht der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz in Bilbao zeigt auf, dass die arbeitsbedingten Risiken von Frauen unterschätzt und vernachlässigt werden. Ein Grund liegt im bisher geschlechtsneutralen Ansatz des Arbeits- und Gesundheitsschutzes; entscheidend sind dafür u. a. die unterschiedlichen Beschäftigungsbedingungen von Frauen und Männern.

Die für den gesetzlichen Arbeitsschutzauftrag verantwortlichen Führungskräfte, Sicherheitsfachkräfte, Betriebsärzte und betrieblichen Interessenvertretungen sind überwiegend Männer. Sie sind aufgefordert, die Geschlechterperspektive umzusetzen.

Ohne das Aufweichen des „Männerblicks“ im klassischen Arbeitsschutz wird das nicht gehen. Der klassische, technisch und männlich dominierte Arbeitsschutz (noch heute ist eine technische Ausbildung Voraussetzung für die SIFA-Ausbildung in Büro- und Verwaltungsbetrieben!) hat zu einem männlichen Normmodell geführt, in dem Frauen nur da vorkommen, wo in besonderen Zusammenhängen Abweichungen existieren. In diesem Sinne wurde die Geschlechterperspektive im Arbeitsschutz berücksichtigt, z. B. bei der Mutterschutzverordnung, beim Beschäftigungsverbot in Nachtschicht (heute aufgehoben) oder bei den Grenzwerten der Lastenhandhabung.

Die Wirkung dieser Regelungen ist nicht allein schützend, sondern häufig vor allem ausgrenzend. Wenn Frauen weniger belastbar sind, werden sie eben auch weniger für bestimmte belastende Arbeiten eingestellt. Fraglich ist auch, ob die Belastungen für Männer wirklich so viel weniger gesundheitsschädlich sind.

Ein Beispiel

Wie deutlich und diskriminierend sich die Geschlechterunterschiede oft zeigen, kann die folgende alltägliche Geschichte verdeutlichen: In einer Kommune ist man stolz auf das hohe Niveau im Arbeits-und Gesundheitsschutz. Viele Beschäftigte engagieren sich in Fragen der Arbeitssicherheit. Es gibt ein funktionierendes Arbeitsschutzsystem und gerade wird über neue Schutzkleidung für die Beschäftigten des Garten- und Forstamtes nachgedacht. Als eines Tages die ErzieherInnen des städtischen Kindergartens an die Arbeitsschutzverantwortlichen herantreten, weil sie Mittel für Lärmschutzmaßnahmen und spezielle Tische aus dem Arbeitsschutztopf bekommen wollen, ist die Verwunderung groß. Dafür sei das Geld nicht gedacht, das müssten sie schon aus ihrem eigenen Kindergartenbudget bezahlen!

Typische Frauenarbeit

Viele typische Frauenarbeitsplätze werden heute immer noch als „leicht“ angesehen. Ihre Anforderungen werden weniger hoch bewertet oder die spezifischen emotionalen und sozialen Belastungen werden heruntergespielt, weil es angeblich eine natürlich vorhandene Qualifikation der Frauen für diese Tätigkeiten gebe (vgl. Krankenschwester, Sekretärin, Kindergärtnerin). Typische Frauenberufe lassen sich gar nicht ein Berufsleben lang ausüben, da sie z.B. häufig vom Dauerstehen geprägt sind – dies würde eine andere Arbeitsgestaltung erfordern (Friseurin, Verkäuferin, Küchenhilfe).

Unterschiedliche Belastungssituationen

So unterschiedlich die Arbeitswelten sind, so unterschiedlich sind auch die „typisch“ ma¨nnlichen und weiblichen Lebenswelten. Während für die allermeisten Männer immer noch der Beruf das nahezu einzige bedeutende Element der Biografie darstellt, ist der Alltag vieler Frauen nach wie vor geprägt von der Versorgung anderer Menschen, seien es Kinder, Ehemänner oder (Schwieger-)Eltern.

Diese Unterschiede im Alltag „neben“ der Erwerbsarbeit haben gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit und Erholungsfähigkeit der arbeitenden Menschen. Wie bereits gesagt: Der Blick auf die Unterschiede macht einiges deutlich, beinhaltet aber immer die Gefahr, Frauen und Männer, die „anders“ sind, umso mehr aus dem Blick zu verlieren und auszugrenzen.

Gender-Training

Die Gender-Perspektive im betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz zu integrieren, heißt, jeden Schritt und jede Maßnahme entsprechend zu planen und zu hinterfragen.

Jeder Gender-Mainstreaming-Prozess beginnt mit Gender-Trainings für möglichst viele im Betrieb relevante Personen. Wenn der Betriebsrat zunächst – oder weil der Widerstand auf Arbeitgeberseite zu groß ist – alleine mit Gender-Mainstreaming beginnen will, kann er sich auch ohne Beteiligung der anderen Seite auf den Weg machen und eben wenigstens seine eigene Arbeit in der Zukunft unter der kritischen Perspektive des Gender-Blicks planen, durchführen und hinterfragen. Gender-Trainings dienen zum einen dazu, über das Prinzip, die Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten der ungleichen Geschlechterverhältnisse aufzuklären. Darüber hinaus geht es aber vor allem darum, den eigenen Blick zu sensibilisieren: Wo könnte im eigenen Denken und Handeln, in den eigenen Vorstellungen von dem, was selbstverständlich und „normal“ ist, ein mittelbarer oder unmittelbarer Beitrag zur ständigen Diskriminierung liegen?

Wo in dem, was im Betrieb gedacht und getan wird? Gender-Mainstreaming muss immer auch bedeuten, sich selbst in Frage zu stellen. Die Zweiteilung der Geschlechter und die damit verbundenen Zuschreibungen und Bewertungen sind so tief in uns allen verwurzelt, dass ein anderer Umgang damit erst allmählich erlernt werden muss. Was heute noch ganz normal erscheint, kann morgen schon fragwürdig und diskriminierend aussehen.

Gender-Analyse

Im nächsten Schritt gilt es dann, durch eine Gender-Analyse im Betrieb herauszufinden, an welchen Stellen die Ungleichgewichtung offensichtlich oder unterschwellig besonders stark ist und welche Zuschreibungen und Bewertungen im Betrieb gelten. Auf Grundlage dieser Analyse kann dann entschieden werden, an welchen Stellen erste Projekte begonnen werden können, die zur Umsetzung des Gender-Mainstreaming-Prinzips im Betrieb dienen sollen. Die umfassende Einführung des Verfahrens ist ein langfristiger Prozess. Wie bei jedem solchen Vorhaben ist es sinnvoll, zunächst an überschaubaren Pilotvorhaben zu arbeiten, die den Beteiligten das Prinzip, die Verfahren und Denkweisen näher bringen und für die weitere Einführung wichtige Lernerfahrungen aber auch erste schnelle Erfolgserlebnisse ermöglichen sollen. Die Gender-Analyse im betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz fragt nun wieder nach allen drei Feldern:

Arbeitswelten

  • Welche Ressourcen werden im Arbeits-und Gesundheitsschutz verwendet? In welchem Maße sind eher Frauen oder eher Männer Zielgruppen der Maßnahmen?
  • Werden die Unterschiede der Belastungen an Arbeitsplätzen, die „typische“ Männer- oder Frauenarbeitsplätze sind, wahrgenommen und bewertet?Ist die Gefährdungsbeurteilung umfassend genug und berücksichtigt sie die Geschlechterperspektive?
  • Werden die Vorschriften zum Schutz von Schwangeren und stillenden Müttern umgesetzt? Ist die Nicht-Anwendung dieser Vorschriften für alle anderen Beschäftigten sinnvoll oder gelten mögliche Beeinträchtigungen der Gesundheit für alle?

Lebenswelten

  • Welche Ressourcen werden im Arbeits-und Gesundheitsschutz verwendet? In welchem Maße sind eher Frauen oder eher Männer Zielgruppen der Maßnahmen?
  • Werden die Unterschiede der Belastungen an Arbeitsplätzen, die „typische“ Männer- oder Frauenarbeitsplätze sind, wahrgenommen und bewertet? Ist die Gefährdungsbeurteilung umfassend genug und berücksichtigt sie die Geschlechterperspektive?
  • Werden die Vorschriften zum Schutz von Schwangeren und stillenden Müttern umgesetzt? Ist die Nicht-Anwendung dieser Vorschriften für alle anderen Beschäftigten sinnvoll oder gelten mögliche Beeinträchtigungen der Gesundheit für alle?

Zuschreibungen/Bewertungen

  • Welche typischen Vorurteile gibt es, die im Betrieb die Wahrnehmung „trüben“ und den Schutz eines Geschlechts mindern und wie funktioniert das?
  • Welche Arbeitsbelastungen gelten als schwer und welche als leicht? Stehen die Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in einem Verhältnis dazu oder werden bestimmte Bereiche bevorzugt/ benachteiligt?
  • Beziehen sich die Maßnahmen des Arbeitschutzes nur auf „harte“ Anforderungen wie Betriebssicherheit und technische Arbeitsmittel oder in gleichem Maße auf „weiche“ Faktoren wie psychische Belastungen, Arbeitszeit usw.?
Publikationen

Bei dem obenstehenden Text handelt es sich um Ausschnitte eines Artikels von Regine Rundnagel und Michael Gümbel

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