Gesundheitsförderung im Betrieb: Postulat und Realität. 15 Jahre nach Ottawa – Umsetzung des Settingansatzes

Autoren: Ferdinand Gröben und Jutta Ulmer

1. Kontext

Betrachtet man die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, so lassen sich – bezogen auf die Arbeitswelt – weitgreifende Veränderungen feststellen. Erwerbsarbeit heute folgt nicht mehr den Mustern, die noch vor 30 Jahren die Regel waren. Stabile Beschäftigungsformen werden zunehmend seltener. Und dort, wo sie noch existieren, haben sich die vorherrschenden Arbeitsinhalte grundlegend geändert. Die Arbeitsanforderungen sind wesentlich intensiver geworden.

Seit Eingang der Gedanken der Ottawa Charta in die deutsche Gesetzgebung wurden viele Instrumente und Konzepte der Gesundheitsförderung im Betrieb entwickelt, die ihre Effektivität eindrucksvoll belegen konnten. Defizite lassen sich aber nach wie vor in der Verbreitung und der Durchdringung der Arbeitswelt mit solchen Konzepten feststellen.

2. Zielstellung des Projektes

Angesichts dieser Rahmenbedingungen hatte das Forschungsvorhaben das Ziel, zu untersuchen, ob in den letzten Jahren die Verbreitung betrieblicher Gesundheitsförderung fortgeschritten, stagniert oder zurückgegangen ist.

Weiterhin wurde analysiert, welche Veränderungen in der Ausrichtung der Angebote eingetreten und welche Entwicklungsbemühungen zukünftig notwendig sind.

3. Untersuchungsmethoden

Zur Beantwortung der Fragen wurde eine Wiederholungsbefragung durchgeführt. Der erste Befragungszeitpunkt war 1997. Damals wurden 447 hessische und thüringische Unternehmen der Dienstleistungsbranche und des metallverarbeitenden Gewerbes zur Praxis ihres Arbeitsschutzes und ihrer Gesundheitsförderung befragt. Die in die Studie einbezogenen Betriebe stellten eine repräsentative Stichprobe dar. Von den 447 Unternehmen der Erstbefragung wurden 150 Betriebe im Jahr 2003 ein zweites Mal zu allgemeinen Betriebsdaten, ihrem praktizierten Arbeitsschutz und ihren angebotenen Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung interviewt. Dieses Vorgehen eröffnet erstmals die Möglichkeit, Veränderungen in der betrieblichen Gesundheitspolitik im Längsschnitt zu analysieren.

Zwei Drittel der 150 Betriebe, die im Jahr 2003 erneut befragt wurden, haben ihren Standort in Hessen und ein Drittel in Thüringen. Bei 39,3% der Unternehmen handelt es sich um Dienstleistungsbetriebe und bei 60,7% um Betriebe aus dem metallverarbeitenden Gewerbe. Die durchschnittliche Betriebsgröße beträgt 648 Mitarbeiter. In wichtigen Unternehmensdaten wie Standort, Anteil an Frauen, Schicht- und Teilzeitarbeitern ist die Längsschnittstichprobe 2003 repräsentativ. Verzerrungen gibt es dahingehend, dass eher Unternehmen mit einem höheren Niveau betrieblicher Gesundheitsförderung die Bereitschaft zeigten, an der Wiederholungsbefragung teilzunehmen.

4. Befunde

Im Jahr 2003 fanden sich nur in 17,3% der befragten Unternehmen absolut keine Elemente betrieblicher Gesundheitsförderung. Der Gesamtindex „Betriebliche Gesundheitsförderung" (die Messgröße zur Ermittlung des Niveaus der Gesundheitsförderung) hat sich seit 1997 von 18,8 Punkten auf 21,6 Punkte im Jahr 2003 leicht, statistisch allerdings nicht signifikant erhöht. In welchem Maße sich das Niveau der Gesundheitsförderung in den Betrieben im Untersuchungszeitraum verbessert hat, wird daran deutlich, dass sich der Anteil der Unternehmen, die ein sehr gutes bis ausreichendes Maß an Gesundheitsförderung aufweisen, von 16,0% im Jahr 1997 deutlich auf 27,4% im Jahr 2003 vergrößert hat. Insbesondere in den Bereichen Verhaltens- und Verhältnisprävention lassen sich Verbesserungen der betrieblichen Praxis beobachten. Bei Maßnahmen der Verhältnisprävention zeigt sich sogar ein signifikanter Anstieg.

Es lässt sich feststellen, dass betriebliche Gesundheitsförderungsprogramme in den letzten Jahren zwar keinen quantitativen Sprung in ihrer Verbreitung gemacht haben, die Konzepte in den Unternehmen, die Gesundheitsförderung in ihre Personalentwicklung aufgenommen haben, erfuhren aber eine positive, qualitative Ausweitung. Dies gilt insbesondere für die Gruppe der mittleren Betriebe mit 500 bis 999 Mitarbeitern. Handlungsbedarf bleibt vornehmlich in der Gruppe der kleinen Unternehmen mit weniger als 200 Mitarbeitern bestehen.

Die Maßnahmen erreichen nach Angaben der Betriebe die Hälfte der Mitarbeiterschaft, finden in vier von fünf Fällen in der Betriebsstätte und zu etwa zwei Drittel während der Arbeitszeit statt. Bei der Steuerung der Gesundheitsförderungsmaßnahmen erweist sich dabei die Kooperation von Geschäftsleitung und Vertretern der Mitarbeiter als ausgesprochen förderlich.

Erfreulicherweise korreliert der Fortschritt in der betrieblichen Gesundheitsförderung mit der Ausweitung der betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Betreuung. So gab es 2003 in mehr Unternehmen als zum Zeitpunkt der Erstbefragung einen Betriebsarzt bzw. überbetrieblichen arbeitsmedizinischen Dienst (1997: 84,2%; 2003: 95,3%), eine Fachkraft für Arbeitssicherheit bzw. überbetrieblichen sicherheitstechnischen Dienst (1997: 92,9%; 2003: 97,7%) und einen arbeitsfähigen Arbeitsschutzausschuss (1997: 75,4%; 2003: 82,1%).

Hier könnten Synergieeffekte aufgetreten sein: So hat sich der Anteil der Betriebe, die Analysen zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen durchführen, erhöht (insbesondere zu nennen ist hier das Erstellen von Gesundheitsberichten). In diesen Unternehmen haben die Befunde offensichtlich dazu geführt, dass die Maßnahmen der Gesundheitsförderung ausgeweitet wurden, wobei mehr Gewicht auf die Verhältnis- als auf die Verhaltensprävention gelegt wird. Zudem werden Führungskräfteseminare deutlich häufiger realisiert und tragen somit zur Vertiefung der Gesundheitsförderung in den Betrieben bei.

Negativ fällt auf, dass Maßnahmen zur Mitarbeiterpartizipation 2003 deutlich seltener umgesetzt wurden als 1997. Hier sollten – wenn eingebunden – externe Experten der Gesundheitsförderung auf die Wichtigkeit und Notwendigkeit solcher Aspekte hinweisen. Dies erscheint zusätzlich deshalb geboten, weil die Betriebe, die keine Gesundheitsförderung realisieren, als vornehmliche Gründe mangelndes Interesse der Führungskräfte (in vier von zehn dieser Unternehmen), Kosten und fehlende Informationen angeben.

Untersuchungen konnten belegen, dass Mitarbeiterpartizipation nicht nur zum Erfolg von Gesundheitsförderungsprogrammen beiträgt, sondern auch ein Kriterium ist, das mit dem wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen korreliert. Eine Analyse der Situation derjenigen Unternehmen, die seit der letzten Befragung im Jahr 1997 Konkurs anmelden mussten, mit den 2003 noch existenten Firmen zeigt: Betriebe ohne nennenswerte Gesundheitsförderungsmaßnahmen mussten deutlich öfter Insolvenz anmelden als jene Unternehmen mit Gesundheitsförderungsprogrammen.

Signifikante Unterschiede im Ausprägungsgrad der betrieblichen Gesundheitsförderung zeigen sich in Abhängigkeit von der Betriebsgröße, der Wertschätzung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie der Rate der Arbeitsunfälle und der Nutzenserwartung. Unternehmen mit mindestens 1000 Beschäftigten erzielen mit durchschnittlich 38,6 Punkten ein signifikant höheres Niveau hinsichtlich der Gesundheitsförderung in ihrem Betrieb als die Unternehmen der Größenklasse zwei (28,1 Punkte), drei (20,1 Punkte) und vier (14,9 Punkte). Während 66,7% der Unternehmen mit mindestens 1000 Beschäftigten sehr gute bis ausreichende Gesundheitsförderung (33,4 bis 100 Punkte) realisieren, reduziert sich dieser Anteil bei den Betrieben der Größenklasse zwei auf 34,8%, der Größenklasse drei auf 24,2% und der Größenklasse vier auf 13,8%.

Veränderungen in der Angebotspalette betrieblicher Gesundheitsförderung zeigen sich dahingehend, dass 2003 deutlich häufiger als 1997 die Fehlzeiten ausgewertet (1997: 46,7%; 2003: 57,3%), Gesundheitsberichte erstellt (1997: 20,7%; 2003: 33,3%) sowie Führungskräfteseminare (1997: 12,0%; 2003: 26,7%), Konfliktbewältigungsseminare (1997: 21,3%; 2003: 26,7%) und Seminare zum Übergang in den Ruhestand (1997: 5,3%; 2003: 10,7%) angeboten wurden. Im Bereich der Verhältnisprävention hingegen wurden 1997 deutlich häufiger als 2003 Zeitmodelle (1997: 60,0%; 2003: 48,7%) und die Mitarbeiterpartizipation (1997: 18,0%; 2003: 10,0%) realisiert.

Etwa ein Drittel der befragten Unternehmen plant, Maßnahmen der Gesundheitsförderung in Zukunft anzubieten, die sie bislang noch nicht realisieren. An erster Stelle der geplanten Maßnahmen steht die Ermittlung von psychischen Belastungen, gefolgt von der Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Entspannungsprogrammen, Bewältigung von Mobbing, Bewegungsprogrammen und Gefährdungsbeurteilungen.

Dabei bestätigt die Hälfte der befragten Unternehmen einen allgemeinen Informations- und Beratungsbedarf in Fragen des Arbeitsschutzes und der betrieblichen Gesundheitsförderung, wobei dies mehr thüringische (54,3%) als hessische (48,8%) Betriebe und eher Mittel- und Großunternehmen als Betriebe mit 50 bis 199 Mitarbeitern (46,4%) tun.

Gefragt nach ihrem spezifischen Informations- und Beratungsbedarf wünschen sich die meisten Unternehmen Unterstützung bei folgenden bedarfsanalytischen und verhaltenspräventiven Maßnahmen: Ermittlung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz (30,0%), Bewältigung von Mobbing (28,0%), Suchtprävention (28,0), Entspannungsprogramme (27,4%), Gefährdungsbeurteilungen (26,0%), Bewegungsprogramme (26,0%). Unterstützung bei verhältnispräventiven Angeboten wird von den Unternehmen in geringerem Maße nachgefragt.

Unterstützung bei der Planung und Durchführung von Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung erwarten die befragten Unternehmen vor allem von den Berufsgenossenschaften (70,0%), Krankenkassen (66,7%), Ämtern für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (41,3%) sowie den Beratungsstellen der Gewerkschaften (31,3%). Den Informations- und Beratungswünschen der Betriebe sollten die genannten Institutionen nicht zuletzt vor dem Hintergrund gerecht werde, dass neben dem mangelnden Interesse der Führungskräfte und den Kosten es vor allem fehlende Informationen und Ansprechpartner sind, die die Implementierung von Gesundheitsförderungsmaßnahmen in den Betrieben behindern.

In der derzeitigen Betreuung sind erwartungsgemäß in der Gruppe der kleinen Unternehmen mit bis zu 199 Mitarbeitern die größten Defizite zu verzeichnen. Aber auch mittlere Betriebe bis zu 499 Beschäftigten werden insbesondere von den Krankenkassen bis jetzt nur ungenügend unterstützt.

Das größte Potential zur Verbesserung dieser Situation liegt derzeit bei den Institutionen der Gesetzlichen Krankenkassen. Während die staatlichen Ämter und die Berufsgenossenschaften die Betriebe recht gut erreichen, können die Krankenkassen hier noch Boden gut machen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil bei den staatlichen Ämtern und den Berufsgenossenschaften zur Zeit eher Einschnitte als Erweiterungen ihrer Kompetenzen und Ressourcen diskutiert werden. Wichtige Akteure in der betrieblichen Gesundheitsförderung könnten zukünftig die arbeitsmedizinischen und sicherheitstechnischen Dienstleister werden, die in einem hohen Maße Zugang zu den Betrieben gefunden haben. Um Programme der betrieblichen Gesundheitsförderung verstärkt in diesem Segment der Unternehmen voranzutreiben, könnten die Krankenkassen (gemeinsam mit den Unfallversicherungsträgern) Kooperationsmodelle mit arbeitsmedizinischen und sicherheitstechnischen Dienstleistern erproben und so eine höhere Versorgung mit Angeboten der betrieblichen Gesundheitsförderung erreichen.

Förderung

Die Umfrage wurde von der Hans-Böckler-Stiftung und der Süddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft ermöglicht.

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